Textanalyse der Wohmann-Erzählung "Ein netter Kerl" Folgen des Lästerns |
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In der Erzählung "Ein netter Kerl" von Gabriele Wohmann wird ein Familiengespräch beim Essen dargestellt. Thema dieses Gespräches ist ein korpulenter Mann, der gleichzeitig als "lieb" eingeschätzt wird. Trotzdem zieht fast die ganze Familie - bis auf Tochter Rita - spöttisch über den "netten Kerl" her. Das Gespräch nimmt eine drastische Wende, als Rita der Familie eröffnet, dass sie sich mit eben diesem Mann verlobt hat. Darauf reagiert die ganze Familie sehr schweigsam und verlegen. Die szenisch erzählte Geschichte lässt sich in zwei große Abschnitte aufteilen (Zeile 1 bis 60 und 61 bis 85). Dabei enthält der erste Teil Lästereien der Familie über den "netten Kerl", an dessen Ende der Verspottete als "große fette Qualle" dasteht. Der erste Erzählteil wird durch die Reaktion Ritas strukturiert, die zunehmend nach Halt ringt gegen den Spott der Familie. Sie setzt sich gerade auf und hält sich mit den Händen am Sitz fest (Zeile 7-8), drückt die Fingerkuppen fest ans Holz (Zeile 24-25), bis das Holz "klebrig" wird (Zeile 42), so sehr schwitzt Rita, so groß ist ihre innere Anspannung. Schließlich will sie der Familie gegen den zu erwartenden Spott erklären: "Ich liebe ihn."
Billiger Spott über Äußerlichkeiten Die Familienmitglieder reden im Eskalationsteil der Geschichte durchaus nicht aneinander vorbei. Sie gehen von verschiedenen Grundlagen auf der Beziehungsebene aus: Rita hat der Familie ihren Verlobten vorgeführt, doch die hält den "netten Kerl" für einen Fremden, den man verlachen darf und aus dessen spöttischer Vernichtung sich durch Abgrenzung nach außen ein familiäres Wir-Gefühl innen stabilisieren lässt. Die Familienmitglieder (außer Rita) haben in der Tat eine Menge Spaß zusammen, während sie sich gegenseitig in Äußerungen der Verachtung des Fremden überbieten. Nanni: "Könnte ihn immer ansehen und mich ekeln." (Zeile 33-34). Alle außer Rita ziehen über Äußerlichkeiten her, die ihnen an dem Mann nach dem ersten Kennenlernen aufgefallen sind. Dabei verschwenden sie nicht einen Gedanken darauf, wie der Gast zu Rita stehen könnte, obwohl es doch in irgendeiner Weise ein Freund sein muss. Schließlich hat sie ihn eingeladen. Ritas körperliche Anspannung, die nonverbale Reaktion auf den Gesprächsverlauf, bleibt der unsensibel spottenden Familie verborgen. Rita sucht nach festem Halt, sie baut eine Schutzmauer gegen die unbedachten und so vielleicht nicht gewollten Angriffe auf ihren Geliebten auf. Doch die Familie bemerkt die Signale nicht, da alle zu sehr damit beschäftigt sind, einander an witzigen Einfällen spöttischer Vernichtung zu übertrumpfen. Rita wird vom Lachen geradezu überrollt, kann sich für kurze Zeit sogar darin verlieren, stabilisiert ihr eigentliches Vorhaben aber dann immer wieder durch aufrechte Körperhaltung. "Sie hielt den Kopf aufrecht": Mit diesem entschlossenen Signal des Wider- standes und der Selbstbehauptung
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leitet sie jene Wende ein, von der der zweite Großabschnitt handelt (Zeile 60).
Eine Wende, ein Sieg Nachdem Rita das Geständnis ihrer Liebe zur "fetten Qualle" über die Lippen gebracht hat, ist sie sichtlich erleichtert, wenn auch stark verunsichert. Ihre Erleichterung ist daran zu sehen, dass es ihr möglich ist, zu lachen; ihre Unsicherheit daran, dass sie mehrfach wiederholt, dass sie sich mit ihm verlobt hat (Zeile 63, 67-68, 72). Verzweifelt, aber auch tapfer-trotzig merkt sie an, ob das nicht zum Lachen und herrlich sei. Die Familie reagiert beschämt, kann erst einmal nur schweigen. Es wirkt verkrampft, wenn sie nun nach einigem Nachdenken in Lobeshymnen verfallen und die positiven Aspekte am neuen Familienmitglied hervorheben, als wollten sie ihren Spott von eben übertünchen. Allerdings schaffen nur die Eltern die Wende. Diejenige, die zuvor am lautesten getönt hat (Nanni), schweigt beschämt. Nun fällt der Krampf von Rita ab und die Familie erscheint verunsichert. Sie "zähmen ihre Lippen" und schweigen sich an. Äußerlich erinnern nur noch die roten Flecke in ihren Gesichtern an die spöttische Vernichtungsaktion zuvor.
So lange der "Neuankömmling" noch keine Bedeutung für
die Familie hat und keine direkten Auswirkungen aufs Familienleben bewirkt,
nimmt sich die Gemeinschaft das Recht heraus, spöttisch über
ihn zu lachen. Erst die Tatsache der Verlobung schafft eine radikale Wendung
im Familienklima: Abrupt verwandelt sich "der Fremde" in "einen
von uns", der nun nach den Richtlinien gegenseitiger Achtung und
menschlichen Respekts behandelt werden muss, den alle Familienmitglieder
für sich reklamieren. Die plötzliche Wende aber wirkt sehr unglaubwürdig,
denn im Eskalationsteil der Geschichte haben alle Spötter offenbart,
wie sie wirklich über den Neuen denken. Vom äußeren Erscheinungsbild
schließen sie auf einen "weichen Charakter", der nicht
zum Bild des kernigen Typen passt, der als männliche Rollendefinition
bei den Familienmitgliedern hoch im Kurs zu stehen scheint. Diese Selbstoffenbarung
dürfte als Hypothek über dem weiteren Familienleben schweben,
auch wenn die Eltern nach der emotionalen Wende kräftig zurückrudern.
Eine Menge ist zu tun, um Ritas Vertrauen in die Loyalität und Aufrichtigkeit
der Familie wiederherzustellen. Die Geschichte macht deutlich, dass in der Kommunikation das Nonverbale eine ganz große Rolle spielt. Neben den Worten und der Stimme sagen Gestik und Mimik sehr viel über die eigentlichen Gedanken oder auch Hintergedanken der Menschen aus. Außerdem erscheint es ratsam, die Beziehungen der Gesprächspartner zu erforschen, bevor man sich an spöttischem Klatsch beteiligt. Sonst erwächst aus dem vergnüglichen Lästern ein böser Bumerang. |