
Aus fünf mach eins
Eine Handvoll Frauen stecken in Fausts Gretchen
Von Susanne Schröder
Gretchen begegnet uns bescheiden, fromm, gehorsam
und fleißig. Sie ist noch sehr jung, dementsprechend kindlich naiv
und leicht beeinflussbar. Trotzdem weist sie auch frauliche Züge
auf. Diese äußern sich in ihrer hauswirtschaftlichen Tüchtigkeit;
auch darin, dass sie ein jüngeres Geschwisterchen aufgezogen hat;
schließlich wird sie selbst Mutter.
Außer der religiösen hat sie keine weitere Bildung genossen, aber
sie besitzt viel Intuition, spürt zum Beispiel instinktiv das Böse
in Mephisto.
Das schöne, einfache Naturkind hat Fausts Verführungskünsten nichts
entgegen- zusetzen, da sie nur zu unterwürfigem Gehorsam erzogen
wurde, sowohl von Seite der Mutter als auch der Kirche. So nimmt das
tragische Geschehen seinen Lauf, und Gretchen und Faust verstricken
sich immer tiefer in Schuld.
Mephistopheles zieht im Hintergrund die Fäden und lässt die Menschen
nach seinen Wünschen agieren. Faust und Gretchen werden am Tod von
Gretchens Mutter schuldig, Faust erschlägt Gretchens Bruder
Valentin, und Gretchen bringt ihr neugeborenes Kind um.
Erscheint Gretchen anfangs noch jugendlich unbekümmert und kann mit
„schnippischen“ Worten kontern, so gerät sie unter dem Druck der
Verhältnisse in tiefe Verzweiflung, wird schließlich wahnsinnig.
Ihren treuen Kinderglauben, den sie an Faust so schmerzlich
vermisst, behält sie bis zum Schluss. In der letzten Szene, im
Kerker, ist sie sogar soweit gereift und in ihrem Glauben gefestigt,
dass sie der teuflischen Versuchung, die noch einmal in der Gestalt
des Faust an sie herangetragen wird, widerstehen kann, und so der
himmlischen Erlösung gewiss wird.
Das Wirtshaus-Gretchen
Im Alter von etwa 14 Jahren lernte Goethe „das schöne Gretchen“ in
einem Wirtshaus in Offenbach kennen. Bettina Brentano zitiert
Goethes Mutter: „Er hatte sie sehr gern; das war die erste, von der
ich weiß, dass er sie lieb hatte.“
(Goethe erzählt, S.20).
Ihre Gestalt war zierlich, alles an ihr schien auserlesen. Es
„verfolgte ihn überall“, es war der erste bleibende Eindruck, den
ein Mädchen bei ihm hinterließ. So ist nicht nur ihr Name im Faust
verewigt worden. Goethe erzählt: „Sie gab niemanden die Hand, auch
nicht mir; sie litt keine Berührung; nur setzte sie sich manchmal
neben mich; besonders wenn ich schrieb oder vorlas, und dann legte
sie mir vertraulich den Arm um die Schulter, sah mir ins Buch oder
aufs Blatt; wollte ich mir aber eine ähnliche Freiheit gegen sie
herausnehmen, so wich sie und kam so schnell nicht wieder.“ (Goethe
erzählt., S. 21).
Eine ähnlich abweisende Verhaltensweise zeigt auch das Gretchen in
Faust. So antwortet sie auf Fausts ersten Versuch sie zu begleiten:
„Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleit nach Hause gehen.“
Faust findet dieses taffe Verhalten „entzückend“.
Goethe liebte es, Gretchen zu sehen, neben ihr zu sein. Später
verbrachte Goethe mit ihr einen heiteren und glücklichen Abend im
Gefühl von Freundschaft, Liebe und Hinneigung. Als er sie nach Hause
brachte, gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn. Es war das letzte
Mal, dass er sie sah. Denn tags darauf erfuhr der 14-Jährige, dass
Gretchen ihn als „Kind“ bezeichnet hatte. Goethe dazu: „Ich fand es
unerträglich, dass ein Mädchen, höchstens ein paar Jahre älter als
ich, mich für ein Kind halten sollte, der ich doch für einen ganz
gescheiten und geschickten Jungen zu gelten glaubte. Ich kehrte
diese ärgerlichen Betrachtungen so lange bei mir hin und wider, bis
ich ihr alle liebenswürdigen Eigenschaften sämtlich abgestreift
hatte. Dem Verstande nach war ich überzeugt und glaubte sie
verwerfen zu müssen; nur ihr Bild! Ihr Bild strafte mich Lügen, so
oft es mir wieder vorschwebte, welches freilich noch oft genug
geschah...“ (Goethe erzählt, S. 23).
Käthchen Schönkopf
Goethe begegnete Käthchen Schönkopf im Weinhaus ihrer Eltern in
Leipzig, wo er als Student seine Mahlzeiten einnahm. Er übertrug
seine frühere Neigung zu Gretchen auf „Ännchen“, wie er sie später
nannte. In seinen Erinnerungen beschreibt er sie als jung, hübsch,
munter, liebevoll, angenehm, betrachtet sie sogar als „kleine
Heilige“ (Goethe erzählt, S.30).
Doch, vermutlich um die von Gretchen erlittene Schmach wettzumachen,
kehrte er bei Käthchen eine chauvinistische Seite hervor. Mit seinen
eigenen Worten: „ward ich von jener bösen Sucht befallen, die uns
verleitet, aus der Quälerei der Geliebten eine Unterhaltung zu
schaffen und die Ergebenheit eines Mädchens mit willkürlichen und
tyrannischen Grillen zu beherrschen.“ Sie machte es eine Zeitlang
mit, schließlich entfernte sie sich aber von ihm. Erst dann bemerkte
er, dass er sie wirklich liebte, aber nun war es zu spät.
Friederike Brion
Im Oktober 1770 besucht Goethe das gastfreundliche Haus der
Pfarrersfamilie Brion in Sesenheim im Elsass. Von der 18-jährigen
Friederike ist er sofort entzückt. „In diesem Augenblick trat sie
wirklich in die Tür; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel
ein allerliebster Stern auf. Sie trug ein kurzes, weißes Röckchen,
[...] schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen
hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden
Zöpfe der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr
deutlich umher und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die
Luft, als wenn es in der Welt keine Sorgen geben könnte, der
Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim
ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Armut und Lieblichkeit zu
sehen und zu erkennen.“ (Goethe erzählt, S.60). Er ist glücklich an
ihrer Seite, schildert sie als geistreich, vorlaut, und doch durch
Gefühl gemäßigt. Ihn fasziniert ihre „Naivität mit Bewusstsein“.
Aber schon im Sommer, nach kurzem, heftigen Liebesglück beendet er
die Beziehung, wahrscheinlich wird sie ihm zu intensiv für die
lockere Bindung, die er beabsichtigt hat. Friederike kann den
Verlust Goethes Zeit ihres Lebens nicht überwinden. Sie lebt bis zum
Tode ihres Vaters unverheiratet in ihrem Elternhaus, zieht danach zu
ihrem Bruder, der eine Pfarrstelle hatte.
Goethe äußert sich später über das unglückliche Ende: „Ich fühlte
nun erst den Verlust, den sie erlitt, und sah keine Möglichkeit ihn zu
ersetzen, ja nur zu lindern. [...] Hier war ich zum ersten Mal
schuldig, ich hatte das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet,
und so war die Epoche einer düsteren Reue, bei dem Mangel einer
gewohnten erquicklichen Liebe, höchst peinlich, ja unerträglich.“
(Goethe erzählt, S. 75).
Charlotte Buff
Charlotte Buff-Kestner wurde zu einer berühmten Frau, weil der
23-jährige, noch fast unbekannte Goethe sich im Sommer 1772
leidenschaftlich in sie verliebte. Diese Liebe konnte keine
Erfüllung finden, denn Charlotte war bereits dem Joachim Christian
Kestner versprochen. Aber sie inspirierte Goethe zu seinem Roman
„Die Leiden des jungen Werther“, den er 1774 veröffentlichte. (fembio.org)
Was Goethe an Charlotte schätzte, drückte er zusammenfassend in
einem Artikel in der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ aus: „Ein
Mädchen, deren Seele ganz Güte, zugleich mit einer Gestalt ganz
Anmut, sich in stillem Familienkreis häuslicher, tätiger Liebe
glücklich entfaltet hat; die Liebling, Freundin, Beistand ihrer
Mutter, die zweite Mutter ihres Hauses ist, deren stets liebwirkende
Seele jedes Herz unwiderstehlich an sich reißt, zu der Dichter und
Weise willig in die Schule gingen, mit Entzücken schauten eingeborne
Tugend, mit gebornen Wohlstand und Grazie.“ ( Goethe erzählt, S. 84).
Die Kindsmörderin Susanna Margareta Brandt
Da bisher alle Liebschaften Goethes unglücklich ausgegangen waren,
musste auch die Beziehung Faust - Gretchen als literarischer
Niederschlag der Seelenstimmung Goethes tragisch enden. Aber die
besonders tragisch-dramatische Wendung von Gretchens Einzelschicksal
- nämlich unschuldig schuldig und schließlich zur Mörderin zu werden
- geschah wohl durch den Einfluss der Kindsmörderin Susanna
Margareta Brandt.
Das Leben der Brandt
Die 25-jährige Dienstmagd aus Frankfurt am Main war unverheiratet,
in Abhängigkeit von ihrem Brotgeber. Sie behauptet, dass „ihre
monatliche Reinigung durch einen gehabten Zorn schon einige Zeit
zurückgeblieben sei und sie davon einen dicken Leib bekommen habe“ (sonntagsblatt.de).
Durch die Geheimhaltung hoffte sie, ihr Kind unbemerkt beseitigen zu
können.
Die Kindstötung geschah, um gesellschaftlichen Sanktionen zu
entgehen. Ein Kind stürzte eine ledige Frau damals in eine
schwierige soziale Notsituation. Es galt als Frucht so genannten
unzüchtigen, kriminellen Verhaltens. Frauen, die dieser Unzucht
überführt waren, hatten kaum mehr Heiratschancen. Sie tötete also
aus Verzweiflung über ein gefährdetes, verpfuschtes Leben.
Vom Vater des Kindes wusste sie noch nicht einmal den Namen. Es war
ein holländischer Kaufmannsdiener, der auf der Durchreise im
Gasthaus „Zum Einhorn“ logierte, in dem die Magd Brandt im Dienste
stand.
Sie gebar das Kind heimlich, würgte es und schlug den Kopf heftig
gegen ein Fass in der Waschküche. Dann hüllte sie den Leichnam in
einer Schürze, verbarg ihn in der Scheune und verschwand. Später
stellte sie sich aus „Gewissensangst“ der Polizei.
Der bereits beerdigte Leichnam des Kindes wurde im Verlauf des
Verhörs wieder ausgegraben und der Mutter vor Auge gehalten, worauf
sie „bald weiß, bald roth“ wurde. Sie gab zu Protokoll: „Er hätte
ihr etliche Gläser Wein zu trinken gegeben, wodurch sie der
gestalten in die Hitze gekommen, daß sie seinen Einfällen nicht
wieder stehen können, so daß er sie auf das bett gezerret, und
daselbsten die Unzucht mit ihr getrieben[...] Nach der Ostermesse
bemerkte Susanna, daß sie schwanger war.“ Am Abend des 1. August
1771 spürte sie ein „starkes Reissen im Leib“. In der Waschküche
wurde sie von der sturzartigen Geburt des Kindes überrascht. Voller
Panik würgte sie das Kind...
Nachdem das Geständnis vorlag, fällten die Richter ihr Urteil ohne
die Angeklagte jemals gehört zu haben. Eine religiöse Erklärung
wurde für den Mord gefunden: „Weilen ihr der Satan dieses alles so
in den Sinn gegeben hatte.“ Sie wurde am 14. Januar 1772 vor einem
großen Publikum hingerichtet. (sonntagsblatt.de).
Goethes Verbindung zu Susanna Brandt
Als Goethe im August 1771 nach Abschluss seines Jurastudiums nach
Frankfurt zurückkehrte, wurde das Verbrechen des Kindsmordes
untersucht. Das Schicksal der Brandt inspirierte Goethe, 1772 begann
er in seinem Elternhaus die Urfassung des „Faust“ niederzuschreiben.
Details bis hin zu einzelnen Formulierungen schöpfte er aus der
Kriminalakte des Falles, die er, seit dem 31. August als Advokat in
Frankfurt zugelassen, offenbar einsehen konnte. So wird ihre
Lebensgeschichte in der Figur der Margarete festgehalten. Sehr
geschickt verbindet er hier auch den Namen seiner Jugendliebe
Gretchen mit Susanna Margareta. Als Gretchen zum ersten Mal
auftritt, wird sie Margarete genannt; nur wenn sie nicht mit Faust
zusammen spricht, wird sie Gretchen genannt. Dies ist ein
stilistisches Mittel Goethes, um die offensichtliche Zweiseitigkeit
der Figur Gretchen zu verdeutlichen.
Wenn der Name „Gretchen“ auftaucht, wird sie immer als fromm,
unschuldig und gehorsam geschildert. Hier greift Goethe die
Charaktereigenschaften seiner Jugendlieben wieder auf. Mit dem Namen
„Margarete“ wird ihre leidenschaftliche, erwachsene Seite verbunden;
aber auch ihre kriminelle Identität entsteht in dieser Verbindung.
Verschmelzung von Eigenschaften
Zusammenfassend kann man sagen: In der Gretchen-Figur vereinigt
Goethe die Eigenschaften von mehreren Frauen, die er gekannt hat.
Beim ersten Auftritt wird Gretchen als kess und kurz angebunden
dargestellt. Solch ein munteres, schlagfertiges, durchaus auch
manchmal schnippisches Wesen scheint Goethe bei Frauen gefallen zu
haben, besonders als Kontrast zu anderen Eigenschaften, die er als
„liebenswürdig“ oder „tugendhaft“ zu bezeichnen pflegt. Schon bei
seiner ersten Liebe, dem „schönen Gretchen“, ist dieses Muster
erkennbar. Auch Käthchen Schönkopf könnte
in der Gastwirtschaft ihrer Eltern ein energisches Verhalten gezeigt
haben, sicherlich musste sie öfter Anträge der männlichen Gäste
zurückweisen. Friederike Brion wird von Goethe charakterisiert:
„gesprächig, lustig, geistreich, vorlaut und doch durch Gefühle,
Achtung und Anhänglichkeit gemäßigt.“ (Goethe erzählt., S. 64).
Noch ein anderes Gegensatzpaar fand Goethe bei Frauen offenbar
reizvoll, nämlich Kind und zugleich Frau. Gretchen zeigt auf der
einen Seite sehr kindliche, auf der anderen Seite aber auch
frauliche, mütterliche Eigenschaften. Diese Konstellation fand
Goethe vor allem bei Charlotte Buff vor, die bei ihren jüngeren
Geschwistern die Mutter ersetzte. Offenbar hat Goethe dies so
beeindruckt, dass er es nicht nur im Werther verarbeitete, sondern
auch noch in den Faust mit hinein nahm. So erzählt Gretchen ihrem
Heinrich, wie sie an Stelle der Mutter, die todkrank niederliegt,
ein jüngeres Schwesterchen aufzieht, welches dann allerdings
gestorben ist. Goethe arbeitet diesen Kontrast bei Gretchen noch
deutlicher heraus, indem sie, fast noch ein Kind, selbst Mutter wird.
Die Tugenden Reinlichkeit und Ordnungsliebe, die Faust an Gretchen
rühmt, fand Goethe sicherlich in allen Familien vor, in denen er
verkehrte. Selbst in einem wohlhabenden Bürgerhaus aufgewachsen, war
er von Kind auf nichts anderes gewohnt und hatte als Ästhet und
bekanntermaßen Augenmensch vielleicht noch einen besonderen Blick
dafür.
Die Religiosität, die er Gretchen zuschreibt, hat er wahrscheinlich
am ehesten bei
Friederike Brion, der Pfarrerstochter, kennen gelernt. Mit ihr hat er
vermutlich häufig über Glauben und Religion diskutiert.
Liebe - zumindest Gefallen - auf den ersten Blick wie zwischen Faust
und Gretchen geschildert, ist wohl auch Goethe mehrmals in seinem
Leben zugestoßen. Deutlich geht das auf jeden Fall aus seiner
Schilderung der Erstbegegnung mit Friederike Brion hervor.
Auch sonst findet sich manches aus der Beziehung zwischen Goethe und
Friederike Brion in der Beziehung Faust - Gretchen wieder: Goethe
lässt Friederike im Stich und empfindet heftige Schuldgefühle
deswegen. Über das unglückliche Ende zeigt er sich im Nachhinein
peinlich berührt, bedauert, dass er ihr so weh getan hat. So wird
auch Faust von Reue geplagt, als ihm bewusst wird, in welche
Situation er Gretchen gebracht hat (nämlich im Kerker): „Mir wühlt
es Mark und Leben durch, das Elend dieser einzigen.“ (Faust, Trüber
Tag, Feld). Friederike bleibt ihr Leben lang unverheiratet, ist über
den Kummer wohl nie richtig hinweggekommen. Bei der Gretchen-Gestalt
wird die Tragik noch durch Hinzunahme des Kindsmordes gesteigert. Im
Kerker ist sie am Rande des Wahnsinns. Bevor Faust zurückkehrt, ist
sie allein gelassen, von der Gesellschaft verstoßen. In dieser
Szenerie sind
Einflüsse des Schicksals der Susanna Margareta Brandt
erkennbar.
In der Inszenierung des Kindsmordes, betrachtet als letzter Ausweg
einer verlassenen Frau, wird das tragische Schicksal der Brandt
verarbeitet. Goethe nutzt hier die aufgebaute Sympathie der
Zuschauer zu der jungen, unschuldigen Grete, um sie als Opfer der
Gesellschaft darzustellen.
Für solche Frauen war Kindesmord oder Selbstmord oft der letzte
Ausweg vor einer Verstoßung durch die Gesellschaft. Das Goethe auf
dieses Problem aufmerksam machen will, ist deutlich in der Szene „Am
Brunnen“ erkennbar. Im Gespräch zwischen Lieschen und Gretchen wird
das Schicksal einer anderen Schwangeren aufgegriffen und Gretchen
und zugleich der Zuschauer begreift, was es in der damaligen Zeit
bedeutet, ein uneheliches Kind zu bekommen. „Bärbelchen“, die
Schwangere, wird verhöhnt. Als Gretchen sie bedauert, reagiert die
andere mit Unverständnis. So etwas war damals nicht bedauernswert,
sondern wurde als Sünde angesehen. Das verführte Gretchen, die
früher selbst schlecht über „solche“ Frauen geredet hat, muss
erkennen: „bin nun selbst der Sünde bloß“. (Faust, Z 1275).
Wie Goethe bei seiner Gestalt „Werther“ eine mögliche eigene
Reaktion in verzweifelter Gefühlslage, in diesem Fall den
Selbstmord, in sein dichterisches Geschöpf projiziert hat, so lässt
sich bei Friederike der Faden weiterspinnen: Wie wäre
es gewesen, wenn es ihr auch ergangen wäre wie der Susanna
Brandt, nämlich wenn sie schwanger geworden wäre?
In der Gretchen-Figur vermischt Goethe die Schicksale der beiden
Frauen und bringt Selbstgefühltes in Fausts Worten zum Ausdruck.
FAZIT
Die Figur des Gretchen zeigt sich uns als Persönlichkeit, die für
viele Deutungen offen bleibt. Vieles aus Goethes persönlichen
Erlebnissen ist in ihr „zusammengedichtet“ worden – verdichtet im
ursprünglichen Sinn des Wortes.
Die Gretchen-Tragödie für sich gesehen stellt ein soziales Drama
dar, in welchem Goethe Zustände anprangert, wie sie damals durch
kleinbürgerliche Engstirnigkeit und kirchliche Gehorsamsforderung
hervorgerufen wurde. Auch die Abschottung zwischen den damals
herrschenden sozialen Schichten spielt eine Rolle.
Wobei man feststellen muss, dass die Problematik der unehelichen
Schwangerschaft bis in die heutige Zeit für Zündstoff sorgt, und
eigentlich erst in den letzten fünfzig Jahren durch
Schwangerschaftsverhütungsmethoden und die größere Selbstbestimmung
der Frauen entschärft wurde. Goethe ist also aktuell wie eh und je.
Ein anderer Gesichtspunkt, unter dem man das Gretchen-Drama sehen
kann, ist der große Rahmen der Faust-Dichtung, in den Goethe dieses
vollkommen eingepasst hat. Im „Vorspiel auf dem Theater“ gibt Goethe
das Motto: „ Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“. (Faust, Z
243).
Erscheint Margarete zu Anfang unschuldig, fromm und rein - eben
himmlisch - so wird sie vom Teufel (mit Faust als Mittler) verführt,
durchlebt die „Hölle auf Erden“, kann dann doch der letzten
Versuchung der Hölle widerstehen und wird in den Himmel gerettet.
So hat Goethe den Kreis geschlossen.
* * *
QUELLEN
Goethe erzählt = Fischer
Bücherei, Goethe erzählt sein Leben, Zeugnis und
Selbstzeugnis, Hamburg 1965
raffiniert.ch =
http://www.raffiniert.ch/sgoethe.html
fembio.org =
http://www.fembio.org/frauen-biographie/charlotte-buff.shtml
sonntagsblatt.de =
http://www.sonntagsblatt.de/1996/6/6-19.htm
Käthchen Schönkopf:
http://www.wm.edu/CAS/modlang/gasmit/ger302/goethe/schönkopf.jpg
Charlotte Buff:
http://www.fembio.org/frauen-biographie/charlotte-buff.shtml"
Friederike Brion:
http://www.fembio.org/frauen-biographie/friederike-brion.shtml
http://www.virtuelleschuledeutsch.at
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